You are my Sunshine

»Ich war noch niemals in New York! Ich war noch niemals auf Hawaii!« Singen gehörte noch nie zu meinen Stärken. Deshalb bevorzuge ich es auch heute, meiner Euphorie bescheiden Ausdruck zu verleihen: leise summend! Schließlich bin ich keine 16 mehr, sondern 56 und das erste Mal in Big Apple. Überhaupt das erste Mal in Amerika. Und auch nur, weil ich diese Reise gewonnen habe. Gewonnen! Könnt ihr euch das vorstellen? Ich! Gewonnen! Ich habe noch nie etwas gewonnen! Mal abgesehen vom Rummel-Plüschhund vor gefühlten hundert Jahren. Da zeigte der Besitzer der Losbude Erbarmen, nachdem ich mein ganzes Taschengeld in Nieten investiert hatte und weinend auf der Holztreppe saß. So richtig gewonnen war das also auch nicht.

Jetzt stehe ich hier. Am Times Square. Sabine Rose, Verwaltungsangestellte am Finanzamt Dresden. Single, immer noch, wahrscheinlich auch bis zum Lebensende. Nie weiter rausgekommen als bis zur Karlsbrücke und zum Goldstrand.

»I want one moment in time,

When I ’ m more than I thought I could be,

When all of my dreams are a heartbeat away … « 

Träume. Wenn nur dieser abartige Lärm nicht wäre, der alles zunichtemacht. Mit dem Kopf im Nacken verweile ich nun schon seit Minuten an einer Stelle, gelehnt an eine Laterne, um nicht vom Sog der Menschenmassen mitgerissen zu werden. Haben die alle kein Zuhause? Genießen, Sabine, den Moment genießen! Hier kommst du so schnell nicht wieder her. Ich zücke die Kamera. Nicht so eine teure Spiegelreflex. Nicht, dass ich mir die nicht leisten könnte. Aber bedienen könnte ich sie nicht. Und so viel Geld auszugeben, nur wegen ein paar Fotos.  Nee! Früher ging ’ s auch ohne. Immerhin digital, lobe ich mich und vermisse im gleichen Atemzug eines dieser teuren Smartphones, wie sie heute jeder hat. Das wäre noch praktischer gerade. Aber die Kamera tut ’ s auch.

Flugs mache ich ein paar Schnappschüsse für die Cousine und die Kollegen. Das glaubt mir ja kein Mensch. Ich – am Times Square! Womit fange ich an? Geschäfte, Souvenirshops, Restaurants und unendliche Fassaden, an denen kaum ein Quadratzentimeter nicht mit Leuchtreklamen gepflastert ist. Calvin Klein, Coca-Cola, Samsung. Ein einziges riesengroßes Kunstwerk. Und ich mittendrin: klein, erschlagen, überfordert. Wie in Trance laufe ich weiter. Hard Rock Café, Madame Tussaud ’ s, Walt Disney. War das gerade – ein nackter Cowboy? Reflexartig drehe ich mich um. Mir wird schwindelig. Er fängt mich auf. »Oh, my dear! I ’ m Robert. Who are you?« Außer Unterhosen, Cowboystiefeln und Hut hat er nichts an. Er wartet, bis ich mich gefangen habe, kniet sich nieder und schmettert mit seiner Gitarre einen mir unbekannten Song: »Thank God for Donald J. Trump, my friends, he ’ s making America great again, sounds like good idea to me. « 

Ich verstehe kein Wort und bin zwei Dollar los für ein Foto, das ich gar nicht wollte. Die spinnen, die Amis!

Die Stadt, die niemals schläft, überwältigt mich. Alles blinkt, blitzt, leuchtet. Hier kann es niemals dunkel werden. Sehen und gesehen werden, sich unerkannt und schamlos amüsieren. Verlockend? Nein, mich kennt ja eh keine Sau. Ein bisschen grämt mich das doch. Aber es bleibt keine Zeit zum Nachdenken. Schnell noch ein Foto vom Trump Tower. Man weiß nie, wofür man es mal braucht. Und wieder werde ich von den Menschenmassen mitgerissen. Irgendwann weiß ich nicht mehr so genau, wo ich mich gerade befinde. Ich bin müde und will nur noch ins Hotel. Doch da, diese riesige weiße Stretchlimousine! Wer da wohl aussteigt? Wie zufällig stehe ich direkt in der Nähe der hinteren Autotür, als der Chauffeur sie öffnet. Kostümierte Erwachsene und – ich glaube, ich sehe nicht richtig – ein Hund! Im nächsten Auto Soldaten, Feuerwehrmänner oder was auch immer für Uniformen sie tragen. Was ist denn das für eine illustre Runde, die von den Menschen rechts und links des abgesperrten Eingangs frenetisch bejubelt wird? Meine fragenden Augen müssen aufgefallen sein, denn ein Mann packt mich am Arm und zieht mich mit hinein in ein luxuriöses Hotel mit einer beeindruckenden Lobby. Ein riesiger pinkfarbener Sweet-Sixteen-Aufsteller weist uns den Weg in einen prunkvoll geschmückten Festsaal. Ich falle vom Glauben ab.

»In every life we have some trouble,

But when you worry you make it double,

Don ’ t worry, be happy!« 

Die Probleme möchte ich haben! Überall liegen sich Leute in den Armen, lachen, weinen – die Übergänge sind fließend. Eine Kostümparty zum 16. Geburtstag mit mehreren hundert Leuten? Das ist doch total übertrieben! In der Ferne erkenne ich einen riesigen Geschenketisch. Alles ist noch verpackt. Rosafarbene Pakete mit pompösen Schleifen. Und da, links neben mir, eine Candybar, größer als meine gesamte Wohnung. So etwas wäre in Deutschland undenkbar. Kein Wunder, dass die Amis alle so fett sind! Wo bin ich hier nur hingeraten?

»You are my sunshine,

My only sunshine,

You make me happy,

When skies are grey … «, dröhnt es pathetisch aus den Lautsprechern. Grau. Graue Leinenhose, graue Bluse. Ob ich in der Kostümierung als graue Maus durchgehe? Bestimmt! Vielleicht denken die auch, ich bin die Putze oder eine Bedienung. Frau Rose, einen Martini bitte an Tisch 18! Ich will nicht weiter auffallen. Eigentlich will ich nur raus, finde aber den Ausgang nicht. Wer ist eigentlich das Geburtstagskind? Alle jungen Mädchen sind herausgeputzt wie kleine Diven. Unmöglich, da die eine auszumachen. Es könnte jede von ihnen sein. Wie will man so einen Geburtstag dann im nächsten Jahr noch toppen? Höher, schneller, weiter! Wo soll das alles noch hinführen? Die Jugend ist versaut. In Deutschland, und hier noch schlimmer. Schlimmer geht immer!

Auf dem Geschenketisch steht ein Foto. Nur mal kurz gucken, Sabine! Ich bin nicht neugierig, nur interessiert. Vorsichtig schlängele ich mich durch die Massen und traue meinen Augen nicht. Es ist ein Hund! Ist der jetzt das Geburtstagskind? Oder bekommt das Mädchen einen Hund? Tiere verschenkt man nicht! Der Gedanke treibt meinen Blutdruck und Puls in ungeahnte Höhen. Irgendwo ist auch mal Schluss mit Toleranz. Gehen oder meinem Ärger Luft machen? Ich bin hin- und hergerissen. Da sehe ich ein Banner über der Bühne: Presented by … Ich kann es nicht aussprechen. Irgend so ein Hundespielzeughersteller. Hier feiert tatsächlich ein Retriever seinen 16. Geburtstag. Gesponsert! Und draußen verhungern die Obdachlosen auf der Straße. Jetzt reicht es mir endgültig! Terror und Krieg bestimmen die Welt, Kinder verhungern, und hier wird ein Hund gefeiert. Ich bin bestimmt tierlieb. Beileibe! Aber mir platzt gleich der Kragen! Am liebsten würde ich mit einer schwungvollen Bewegung den Gabentisch abräumen. Denk an deine gute Erziehung, Sabine! Ein Kellner mit einem Tablett Champagner geht an mir vorbei und ich schnappe mir ein Glas. Das macht den Kohl jetzt auch nicht mehr fett. Gong! Die trubelige Unruhe der letzten Minuten ist wie weggeblasen. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Eine Frau betritt mit dem Retriever die Bühne. Ach ja, bekommt er jetzt auch noch eine eigene Lobrede? Meine Herzfrequenz ist höher als der Mount Everest.

»Liebe Bretagne, wir sind heute hier zusammengekommen, um dir Danke zu sagen. Du bist nicht nur eine ganz bezaubernde Hundedame, sondern auch ein Geschenk des Himmels.« Mein Englisch ist ziemlich schlecht, aber »danke«, »bezaubernd« und »Geschenk des Himmels« verstehe sogar ich. Was für ein Geschwafel! Hohle Phrasen, leere Worte! Es reicht, ich muss raus hier! Diese Spinner!

Nur im Augenwinkel sehe ich den Film, der plötzlich auf der Leinwand hinter der Bühne läuft. Die einstürzenden Twin Towers, Sirenen, überall Rauch, Feuerwehrleute, die mit Rettungshunden verzweifelt in den Trümmern nach Überlebenden suchen. Mein Blick fixiert diese grauenhaften Bilder, die sich auch mir damals vor 14 Jahren ins Gedächtnis gebrannt haben. Meine Hände zittern wie Espenlaub. 9/11 – ein Rettungshund inmitten der Tragödie. Es folgen Videomitschnitte von Trümmern und Geröll, die die Hurrikans Katrina und Rita hinterließen. Und wieder mittendrin, die Frau von der Bühne mit ihrem Golden Retriever Bretagne. Mir wird schlecht. Meine Beine geben nach. Ich kann mich gerade noch an einem Stehtisch festklammern. Der letzte noch lebende Suchhund vom Ground Zero, eine Nationalheldin, wird gefeiert! Sie diente ihrem Land. Bretagne ist nicht irgendein Hund, das hier ist keine Kostümparty. 

»Wo sind all die Helden?, fragst du dich,

Warum kommt dein Supermann einfach nicht,

Wo sind denn all die Helden und dein Herkules?

Jemand, der für dich da ist, so wie ich … « 

Ein Hund ist es, der da ist, wenn die Not am größten ist, unvoreingenommen keine Unterschiede macht und nie verurteilt! Ein Hund öffnet die Herzen. Auch meines. Vielleicht ist das ein Zeichen? Ein Zeichen, sich mehr zu trauen und sich seinem eigenen Leben heldenhaft zu stellen. 

 Text und Zeichnung: © Nicole Pfeiffer

 

Die Geschichte ist dem Buch "Hundherum Heldenhaft" entnommen.

 

Mehr zum Buch

 

Zurück