Jahresabschluss, Neuanfang – so was kennen und brauchen die Enten nicht. Sie fühlen es auch so, wenn eine neue Phase für sie anbricht und die hat mit dem Kalender unserer Kultur nichts zu tun.
Wir Menschen machen aus diesem Tag ein Ritual. Schwierig wird es vor allem, wenn wir alte Brauchtümer wie böse Geister verjagen ins Unermessliche steigern und nicht nur einen ohrenbetäubenden Lärm veranstalten, sondern sogar uns selbst und andere durch die Feuerwerkskörper in Gefahr bringen. Auch die Tiere leiden z. T. in erheblichen Ausmaßen unter der Knallerei (und dem freigesetzten Feinstaub, den zumindest die draußen lebenden Tiere einatmen und der auch für sie gefährlich ist). Ein Hund in der heimischen Wohnung, eine Katze, ein Papagei … selbst ein Goldfisch würde sich die Ohren zuhalten, wenn er könnte. Gefangen in einem Raum, über dem höllischer Hagel herniederrasselt, so dass anzunehmen ist, das ganze Haus stürze ein oder das Universum ginge unter. Nicht anders ergeht es frei lebenden Wildtieren, die eigentlich einen großen Vorteil haben: Sie können fliehen! Aber wohin?
Stockenten reagieren nach meinen Beobachtungen sehr unterschiedlich. Zumindest im Stadtgebiet. So manche Ente flattert erschreckt davon, wenn das Getöse in ihrer Nähe stattfindet. Als ich aber am Nachmittag eines 31. Dezembers durch den Park ging, machte ich andere Erfahrungen. In den umliegenden Straßen wurde bereits viel geknallt, doch die Enten, die sich gerade am Ufer in aller Ruhe putzten, schauten nur kurz auf, peilten die Lage und widmeten sich dann unbeeindruckt wieder ihrer Gefiederpflege. Es schien keine Bedrohung für sie zu bestehen – eigentlich reagierten die Tiere so, als ob eine Krähe über ihnen wieder schreckliche Geschichten erzählt hätte, die sie nichts angingen.
Kurz nach Mitternacht, also in der Kernzeit der Silvesterknallerei, lief ich abermals durch den Park. Ganz allein stampfte ich die Wege entlang, die in der Dunkelheit einem Teerteppich glichen und bislang keine Feuerwerksreste offenbarten. Derweil knallte und zischte es in den Straßen um den Park herum, als würden Bombengeschwader anrücken oder Meteoriten herabfallen.
Der Restaurantteich war verlassen, manchmal spiegelte sich ein Lichtstrahl im kabbeligen Wasser. Zweimal umlief ich den Teich und konnte keine einzige Ente sehen, nicht mal ein Teichhuhn. Sie waren offenbar rechtzeitig weggeflogen – wohin auch immer. Anders war es im Fontänenteich. In jener Nacht sah ich dort vier Enten umherschwimmen. Nicht ängstlich, aber verwirrt reagierten sie.
»Was ist das? Wo sollen wir hin?!«, schienen sie zu fragen. Immer, wenn es am Himmel knallte und ein Lichterhagel erschien, änderten die vier zeitgleich ihren gemeinsamen Kurs. Sie blieben in der Gruppe, was Enten ohnehin bei Gefahr tun, und sie blieben im Wasser, weil sie sich dort sicher fühlten – kein Fuchs, keine Krähe und kein Habicht konnte ihnen in diesem Element etwas antun, also mussten sie hier auch vor diesem Himmelsgetöse sicher sein. Aber das Spektakel über ihnen sollte nicht enden. Fast schien es, also wollten sie mit ihrem ständigen Zickzack-Kurs den wütenden Himmel austricksen. Ihr Handeln entsprang wahrscheinlich der Ratlosigkeit und letztlich auch der Todesangst.
»Warum fliegt ihr nicht einfach weg?«, fragte ich sie.
Doch bevor sie mir eine Antwort gaben, fand ich die Lösung selbst: Weshalb sollten sie direkt ins Feuerwerk fliegen? Sie wissen doch nicht, dass es weit entfernt ist und schnell verpufft! Noch dazu blitzt es aus allen Richtungen gleichzeitig. Sie werden vom Himmel bedroht, der sie verschlingen oder verbrennen will! Da bleiben sie doch lieber im Wasser
Erst spät sah ich sie im Dunkel des Teiches verschwinden, als würden sie in der Finsternis Schutz suchen. Ich ging nach Hause. Sie werden die ganze Nacht umhergeschwommen sein, dachte ich, immer das Böse über sich, immer im Zickzack, hoffend, bald wieder Ruhe zu finden. Vielleicht haben sie sich irgendwann erschöpft im Teichhäuschen ausgeruht? In Gedanken sah ich sie die Flügelenden zum Gebet falten.
Am nächsten Tag war alles wie immer: Die Enten putzten sich oder schwammen umher. Zwei Erpel schienen sich zu zanken, aber sonst waren alle ruhig, um nicht zu sagen müde. Der umliegende Böllermüll interessierte sie nicht die Bohne (es hatten also während meiner Abwesenheit doch manche Menschen direkt im Park Feuerwerkskörper in die Luft gejagt). War da etwas? Natürlich! Ein Weltuntergang, der noch einmal glimpflich verlaufen ist – Glück gehabt! Sie ahnten wohl nicht, dass sich das Spektakel zwölf Monate später wiederholen würde. Oder werden sich die Menschen ändern?
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